Die große Enttäuschung
Viele Schwellenländer stoßen in ihrer Entwicklung zu einem modernen Industriestaat an eine Wachstumsmauer. Für Anleger stehen dann Milliarden auf dem Spiel
Der Bus fährt an einem großen, glitzernden Shopping-Center vorbei, dann biegt er von der vierspurigen Straße ab – und man findet sich zwischen unverputzten, schiefen Häuschen wieder, Hütten eigentlich. Dazwischen streunen Hunde umher, am Rand der Schotterpiste verkaufen Frauen an fliegenden Ständen Zigaretten, einige missmutig blickende Männer stehen in kleinen Gruppen herum. Willkommen in der Favela Rocinha inmitten von Rio de Janeiro.
Diese Armenviertel sind über die ganze Stadt verstreut, befinden sich teilweise im Herzen der Metropole. Meist grenzen sie direkt an die Wohnviertel der Mittelschicht, getrennt nur durch eine Straße oder eine kleine Wiese. Doch zwischen den beiden Lebenswelten verläuft eine unsichtbare Mauer, die die Gesellschaft schier unüberbrückbar teilt.
Eine solche unsichtbare Mauer verläuft jedoch nicht nur innerhalb Brasiliens. Sie verläuft auch durch die Welt. Es ist die Wachstumsmauer. Auf der einen Seite stehen die hochentwickelten Industrienationen. Auf der anderen Seite Schwellenländer wie Brasilien, China oder Indien, die zu ihnen aufschließen wollen. Sie haben in den vergangenen Jahren drastisch aufgeholt. Doch jetzt sind sie an einem Punkt angekommen, an dem es nicht weitergeht.
Sie müssten jetzt einen großen Sprung über diese unsichtbare Mauer machen, um auf das Niveau der Industrienationen zu gelangen. Dazu müssten sie jedoch ihre Strukturen komplett umkrempeln, die Mauern innerhalb der Länder einreißen. Das haben in der Vergangenheit nur sehr wenige geschafft. Und auch diesmal dürften die meisten scheitern. Diese Furcht hatte entscheidenden Anteil daran, dass sich Investoren in den vergangenen Monaten von den Schwellenländern abgewendet haben. Die Währungen dort schwächeln, die Aktienkurse sind eingebrochen.
Es gilt als abgemacht: Nur wem es gelingt, die Wachstumsmauer zu überwinden, der wird in den kommenden Jahren einen neuen wirtschaftlichen Boom erleben. Investoren aus aller Welt schauen derzeit mit Argusaugen darauf, welche Länder ernsthafte Bemühungen machen, sie zu überwinden. Nur dort werden auch Sparer und Investoren profitieren, auch und gerade in Deutschland. Denn immerhin haben deutsche Sparer allein über Investmentfonds rund 25 Milliarden Euro in den aufstrebenden Nationen investiert.
Die Wachstumsmauer ist dabei gar nicht so unsichtbar, wie es zunächst scheint. Man kann sie sogar mit Zahlen belegen. Forscher haben herausgefunden, dass sie ungefähr bei einem Pro-Kopf-Einkommen von 10.000 bis 17.000 Dollar liegt. Genau da befindet sich Brasilien mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 11.720 Dollar, aber auch die Türkei (17.500), Mexiko (16.630), Malaysia (16.530) oder Südafrika (11.190) liegen mittendrin. China steht mit 9.200 Dollar unmittelbar davor, Russland mit 22.000 Dollar bereits darüber, doch dieser Wert ist durch die Ölexporte verzerrt.
Die Historie ist reich an Beispielen von Ländern, die an dieser Wachstumsmauer abgeprallt sind. Argentinien beispielsweise war in den 50er- und 60er-Jahren auf dem Wege nach oben, scheiterte aber dann. Auch die Sowjetunion schaffte es nicht darüber. Nach Statistiken der Vereinten Nationen erreichte das Pro-Kopf-Einkommen im Jahr 1973 mit umgerechnet 12.500 Dollar einen Höhepunkt. Von da an ging es mit der Sowjet-Ökonomie abwärts, ein Prozess, der am Ende zum Zerfall des Riesenreiches führte. "Außer Japan und Korea hat es in den vergangenen 100 Jahren kein Land geschafft, diese Mauer zu überspringen", sagt Matthew Sutherland, der bei der Fondsgesellschaft Fidelity für die Wachstumsregion Asien zuständig ist. In der Ökonomie wird diese Zone daher oft auch als die "Falle des mittleren Einkommens" bezeichnet.
Denn Länder, die sich in dieser Zone befinden, müssen ihre Wirtschaft grundlegend reformieren, vor allem was den institutionellen Rahmen angeht. Denn bis zu der Wachstumsmauer gelten ganz andere Bedingungen als darüber. "Bis zu einem Pro-Kopf-Einkommen von etwa 10.000 Dollar sind Produktmarktregulierung sowie Handels- und Kapitalverkehrsbarrieren positiv für das Wachstum", sagt Helmut Reisen, der lange Jahre Forschungsdirektor am Entwicklungszentrum der OECD in Paris war. Deregulierung dagegen ist in einem solchen Entwicklungsstadium sogar kontraproduktiv. Und so unangenehm es klingt: Autokratien entwickeln sich jenseits der unsichtbaren Mauer ökonomisch meist besser als Demokratien.
Ist die Mauer einmal überwunden, gilt jedoch plötzlich das Gegenteil. Denn da kommt es entscheidend darauf an, dass Eigentumsrechte gesichert sind, dass es unabhängige Gerichte oder eine einklagbare Vertragssicherheit gibt. In den Unternehmen sind Kreativität und Experimentierfreude gefordert, Weltoffenheit und schnelle Anpassungsfähigkeit. Sprich: Die Länder, die sich an der Wachstumsmauer befinden, müssen ihre Wirtschaft und ihre politischen Rahmenbedingungen radikal reformieren, praktisch vom Kopf auf die Füße stellen, um weiter wachsen zu können. Die entscheidende Frage für Investoren ist nun: Welches jener Länder, die sich derzeit noch in der Zone befinden, kann das schaffen?
Manoj Pradham, Schwellenländerexperte bei der Investmentbank Morgan Stanley, hat ein gutes Dutzend Länder genau danach untersucht. Die schlechte Nachricht: Keines davon ist wirklich so konsequent auf Reformkurs, dass der Sprung über die Mauer gesichert wäre. Die gute Nachricht jedoch ist, dass es in einigen Ländern wenigstens berechtigte Hoffnung gibt.
"In Mexiko gehen die Reformen exakt in die richtige Richtung", sagt er. Reformen am Arbeitsmarkt, im Bildungssystem, im Finanzsystem sind angepackt. "Die Umsetzung ist jedoch die große Herausforderung." Ebenfalls auf dem richtigen Weg scheinen in Südamerika Kolumbien und Peru.
Wenig Hoffnung hat er dagegen für Brasilien. Die gegenwärtige Politik ziele darauf, die Konjunktur kurzfristig anzukurbeln, strukturelle Reformen zur Überwindung der Abhängigkeit vom Rohstoffsektor und zur Entwicklung des Industriesektors seien dagegen kaum zu sehen. Ähnlich sieht es in Südafrika aus.
Im Rest der Welt hat Russland gerade gezeigt, dass es keinerlei Interesse hat, sich zu reformieren, die Wirtschaft bleibt von wenigen Oligarchen beherrscht, und der Staat finanziert sich hauptsächlich über Öl- und Gas-Einnahmen. In Indien könnte zwar nach den anstehenden Wahlen der Reformeifer wieder erwachen. Genau deshalb erfreut sich die Börse in Mumbai seit einigen Wochen auch wieder deutlich größerer Kapitalzuflüsse und steigender Kurse.
Doch das Land ist eigentlich noch fern von der Wachstumsmauer. Daher gibt es dort ein ganz anderes Problem. In dem Land wirkt das zuvor beschriebene Phänomen, dass ein nicht autoritär regiertes Land unterhalb der Wachstumsmauer stark benachteiligt ist. Konkret zeigt sich dies in Indien an der Unmöglichkeit, Reformen schnell und effektiv umzusetzen.
Schließlich China. Hier scheiden sich die Geister. "China ist das einzige Land, das das Potenzial hat, der Falle des mittleren Einkommens zu entkommen", sagt Matthew Sutherland. Die Regierung wisse sehr genau, wo das Land stehe, und sei sich der Probleme voll bewusst und sie gehe die Themen an.
Tatsächlich hat Peking erst vor Kurzem den Yuan-Handel wieder ein wenig liberalisiert. Zudem wurde angekündigt, private Banken zuzulassen und die Zinsen schon bald weitgehend dem Markt zu überlassen. Auch die Urbanisierung soll weiter vorangetrieben werden. Das Land kommt jedoch immer näher an den Punkt, wo auch politische Reformen notwendig wären, allen voran unabhängige Gerichte. Dies würde über kurz oder lang die Rolle der Kommunistischen Partei infrage stellen. Ob sie dies zulässt, dürfte letztlich der Knackpunkt sein.
So bleiben eigentlich nur zwei Länder übrig, wo die Hoffnung besteht, dass sie den ultimativen Aufstieg schaffen: Mexiko und China. Auf sie können daher auch Privatanleger derzeit wetten, mit dem entsprechenden Risiko.
Viele Profis dagegen wollen derzeit eine solche Wette nicht eingehen. Sie setzen lieber auf jene Länder, die in ihrer Entwicklung noch deutlich von der Wachstumsmauer entfernt sind, die sogenannten Frontier-Staaten. "Frontiermärkte weisen noch viele der gefragten Eigenschaften auf, die die reiferen Schwellenländer nicht mehr haben", sagt David Hauner, Analyst bei Bank of America Merrill Lynch. "Sie sind in der Regel weit von der Wachstumsmauer entfernt, gegen die beinahe alle Schwellenländer auf ihrem Weg nach oben prallen."
Auch Jim Russell, Ökonom bei U.S. Bank Wealth Management, sieht eher in Frontiermärkten neue Chancen. "Jeder sucht nach dem nächsten China", sagt er. "In Afrika sind einige Kandidaten zu finden." Nigeria, Angola und Äthiopien stehen beispielsweise hoch im Kurs. Allerdings sind das noch wacklige und sehr schwache Ökonomien. Aber genau da standen eben auch China oder Brasilien vor 15 Jahren."
Mir gefällt daher Mexico besser. Als Investment bietet sich z.B. WKN: 911478 an.
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