Warum ich die Geduld der Deutschen bewundere
Ronaldo, Messi, Federer, Serena Williams – sie waren nicht mehr länger die großen Stars. Die Aufmerksamkeit der Menschen lag in dieser Zeit auf anderen Helden: den Forschern und Wissenschaftlern, die in den Laboren unter Hochdruck das Virus erforschten und an einem Impfstoff bastelten. Die bekannteste Mannschaft Deutschlands war vorübergehend nicht mehr Bayern München, sondern das Robert Koch-Institut.
Als die Firma Curevac begann, einen Impfstoff zu entwickeln, wollte Donald Trump diese Firma angeblich aufkaufen lassen, um den Amerikanern Zugriff auf einen Impfstoff (und sich selbst die Wiederwahl) zu sichern. Vermutlich hatte er gehört, dass die Deutschen nicht nur im Fußball, sondern auch in der medizinischen Forschung zur Weltklasse zählen. Unser Wirtschaftsminister Altmaier sagte damals sinngemäß, Deutschland stehe nicht zum Verkauf. Seit jenen Tagen hat ein neuer Wettbewerb die großen Tennis- und Fußballturniere ersetzt: der Wettlauf nach einem Impfstoff oder einem Gegenmittel.
Mein Eindruck ist, dass die Virologen ihren Beruf vor allem aus wissenschaftlichem Forscherdrang ausüben. Für die Politiker dagegen ist es ein Wettkampf um Prestige. Putin hat sich als Erster weit aus dem Fenster gelehnt und die Fertigstellung eines Impfstoffs verkündet. Seine Tochter sei bereits damit geimpft worden.
Ich habe zwar noch nicht die deutsche Staatsbürgerschaft, aber besonders am Anfang der Pandemie war ich Stolz, in Deutschland zu leben. Die Deutschen hatten es geschafft, das Virus unter Kontrolle zu bekommen. Ausländische Medien berichteten mit Respekt, manchmal auch mit Neid über die niedrigen Infektionszahlen und leeren Intensivbetten hierzulande.
Als Putin die Nachricht des eigenen Impfstoffs verkündete, ließen bestimmt viele Staatschefs in den Forschungsinstituten ihres Landes anrufen und fragen, wie nahe sie selbst inzwischen einem Impfstoff gekommen sind. Ob Frau Merkel auch so reagiert hat? Ich wette, für sie, die Wissenschaftlerin, dürfte gelten: Gründlichkeit vor Schnelligkeit. Es zeigt, dass die Deutschen Vertrauen in ihre Politiker und Wissenschaftler haben. Und dass sie Geduld haben.
Ich habe das schon oft beobachtet: Die Deutschen nehmen sich ihre Zeit, um das, was sie tun, gründlich zu machen. Ich erlebe das bei Lehrerkollegen, bei Handwerkern, bei Verwaltungsangestellten. Insbesondere bemerke ich es an der Supermarktkasse. Wie die Leute ihre Einkäufe auf das Laufband legen, wie sie die Sachen in ihre Einkaufskörbe packen, wie sie ganz in Ruhe bezahlen. Die Angestellten an der Kasse haben keine Sorge, dass es in der Schlange Unzufriedenheit geben könnte. Und die Leute in der Schlange warten geduldig. Oft gibt es sogar noch ein kurzes Schwätzchen oder einen etwas längeren Abschiedsgruß an die Kassiererin. In Syrien wären die Menschen viel ungeduldiger, schimpften schneller über Wartezeiten und müssten sich rechtfertigen, wenn sie beim Bezahlen eine Verzögerung verursachen.
Wir haben hier in Rotenburg ein besonders schönes Freibad. In diesem Sommer, wie auch schon in den letzten beiden Hitzesommern, findet sich vor dem Eingang meist eine Menschenschlange, die bis auf den Parkplatz reicht. Die Leute warten in der Sonne und schwitzen. Aber keiner meckert oder drängelt. Und der Mann an der Kasse arbeitet in exakt dem gleichen Tempo und mit der gleichen stoischen Gründlichkeit weiter wie an anderen Tagen. Er lässt sich durch die Schlange nicht unter Druck setzen.
In Syrien würde in einer solchen Schlange garantiert schnell Unmut ausbrechen, Schlitzohren würden sich nach vorn schmuggeln, und der Kassierer würde nicht nur wegen der Hitze in Schweiß ausbrechen, sondern auch wegen des psychologischen Drucks aus der Menge. Und in der entstehenden Hektik würde er vielleicht Fehler machen.
Wenn meine Frau Hala hier in Deutschland beim Einparken etwas länger braucht, setzen wir uns schrecklich unter Druck. Bei Hala bricht der Schweiß aus, weil sie den Verkehr nicht aufhalten will, und auch ich werde hektisch. Aber andere Verkehrsteilnehmer, wenn sie beobachten, wie wir uns stressen, machen manchmal ein Zeichen, dass wir uns ruhig Zeit lassen dürfen. Das finde ich bemerkenswert. In Damaskus hätte es ein Hupkonzert und vielleicht auch Beschimpfungen gegeben.
Derzeit steht die ganze Weltbevölkerung in der Warteschlange für einen Corona-Impfstoff. Wie groß muss hier der Druck auf Politik und Forschung sein, endlich zu liefern? Aber die deutschen Forscher verkünden keinen Sieg, bevor die Schlacht nicht geschlagen ist. Manchmal dachte ich in den vergangenen Wochen, die Politik müsse den Forschern doch endlich zurufen: "Gebt mal Gas!" Dann musste ich mir in Erinnerung rufen, wie man in Deutschland diesen Wettbewerb sieht: Den Forschern, Wissenschaftlern und Politikern, aber auch den Menschen in diesem Land ist Qualität wichtiger als Schnelligkeit.
Geduld und Gründlichkeit scheinen mir bei den Deutschen tief verwurzelt, und vielleicht ist das auch ein Teil des deutschen Erfolgsrezeptes.
Samer Tannous war Hochschuldozent in der syrischen Hauptstadt Damaskus. Seit Dezember 2015 lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern im niedersächsischen Rotenburg (Wümme) und arbeitet dort als Französischlehrer. In seiner Kolumne für SPIEGEL+ schreibt er über seine Versuche, die Sitten seiner neuen deutschen Heimat zu verstehen.
Deutschland ist meine Heimat, Bier mein Getränk
Für mich, der ich in der norddeutschen Tiefebene gestrandet bin, wäre das Leben nicht vollständig ohne das hiesige Nationalgetränk: Bier. Zum Schreiben dieser Kolumne habe ich einige Flaschen besorgt. Den Anfang macht Witbier: ein herrlich süßlicher Geschmack mit einem Hauch Zitronenaroma!
Falls Sie sich jetzt wundern, warum ein Syrer über Bier spricht: Ich bin Christ, wie etwa elf Prozent meiner Landsleute. Für viele Syrer ist der Genuss von Alkohol nichts Ungewöhnliches. Der typische Anisschnaps in Syrien heißt Arak. In den christlichen Dörfern und Vierteln in Syrien gibt es keine Party, ohne dass ein Sänger ein Lied auf den Arak anstimmt. Dann stoßen die Leute mit ihren Gläsern an und tanzen und singen. Jetzt, wo ich in Deutschland bin, möchte ich wie ein solcher Festsänger rufen: "Deutschland ist meine Heimat, und Bier ist unser Getränk!"
Bier hat mir geholfen, in diesem Land anzukommen. Als ich 2016 gelegentlich in einer Basketballgruppe mitspielte, tranken wir anschließend in der Umkleide oft noch das eine oder andere Bier. Wir nannten das "Nachschwitzen" oder "dritte Halbzeit". Ich kannte kaum einen meiner Sportkameraden und verstand nur die Hälfte der Gespräche. Aber in dieser Runde fühlte ich mich sofort akzeptiert.
Manchmal gingen wir noch in eine Kneipe oder in den Biergarten. Mich beeindruckten damals sowohl die Größe deutscher Biergläser als auch die unendlich vielen Möglichkeiten, eine Bierflasche zu öffnen: mit einem Feuerzeug, mit der Kante der Bierkiste, mit dem Kleiderhaken in der Umkleidekabine. Spezialisten sollen eine Flasche sogar mit ihren Zähnen öffnen können. Mein Freund Gerd behauptet, er schaffe das mit einer laufenden Kettensäge. (Darauf schenken wir uns jetzt das nächste Bier ein: Irish Stout, sehr dunkel und etwas bitter.)
Kürzlich rief ein Freund an. Er sagte: "Wir haben uns lange nicht mehr gesehen. Wollen wir mal wieder ein Bierchen zusammen trinken?" Diese Formulierung scheint mir in Norddeutschland typisch für Verabredungen unter Männern zu sein. Erwachsene Männer verwenden das Diminutiv Bierchen, das finde ich bemerkenswert. Ich glaube, sie verniedlichen das Bier, weil sie es so gern haben und es ihre Gedanken erwärmt.
Ich sagte meinem Freund zu. Er schlug vor: "Wir könnten auch in eine Brauerei gehen." Als ich die für mich neue Vokabel "Brauerei" hörte, kam mir dieses schwere, dunkle Wort vor wie ein rotierendes Mühlrad und machte mich neugierig. Ich fragte ihn, was das sei, eine Brauerei? Er erklärte es mir, und ich willigte ein.
Wir besuchten also eine kleine Brauerei in Bremen (durch deren Biere wir uns gerade trinken, aktuell Rotbier). Als ich die großen Kessel, Bottiche und Tanks sah, staunte ich sehr. Wie viel Bier mussten die Deutschen trinken, um diese riesigen Gefäße zu leeren! Und hier handelte es sich um eine vergleichsweise kleine Craft-Brauerei, nicht um eine der großen Bierfabriken.
In Syrien werden die bekannten Arak-Sorten industriell gefertigt. Aber es gibt eine sympathische Alternative: Viele Leute brennen ihren Arak selbst, das ist in Syrien legal. Sie destillieren in großen Töpfen auf offenem Feuer und laden Gäste zum Umtrunk ein. Dann wird gemeinsam gefeiert. Ein selbst gemachter Arak schmeckt einfach am besten.
Nach der Besichtigungstour saßen wir in der Bremer Brauerei an einem langen Tisch zur Verköstigung der Sorten, die dort hergestellt werden. 14 verschiedene Biere wurden präsentiert. Die ersten beiden konnte ich noch auseinanderhalten. Aber danach rochen alle ähnlich. In Syrien gibt es auch nur zwei Sorten Bier, die noch dazu ziemlich ähnlich schmecken, vielleicht sind meine Geschmacksnerven deshalb schlecht trainiert. Die deutschen Teilnehmer dagegen konnten Aromen erkennen wie Zitrone, Ananas, Schokolade.
Wenn ich Deutsche Bier trinken sehe, habe ich manchmal den Eindruck, es handele sich um Wasser. Könnt ihr Deutschen euch an Bier überhaupt betrinken? Oder werdet ihr davon nur beschwipst? "Beschwipst" ist an dieser Stelle übrigens mein neues Lieblingswort. Das arabische Wort dafür ist: "Mezhzah" (ausgesprochen: "M'sach sa"). Ich mag das Gefühl, auf einer Party beschwipst zu sein. Es ist eine Zwischenwelt zwischen Traum und Realität. Ich will tanzen!
Wo war ich? Ach ja: Auf syrischen Feiern singt übrigens manchmal ein Sänger dieses Lied: "Ich bin betrunken. Und meine Betrunkenheit ist so stark. Ich mache keinen Unterschied zwischen Lila und Blau. Und ich frage mich, ob ich vom Alkohol betrunken bin oder von der Frau, die mir gegenübersitzt."
Mein Gegenüber dagegen sagt jetzt leider, dass wir heute nichts mehr trinken und Schluss machen sollten, weil wir morgen arbeiten müssen. Der Text würde jetzt auch nicht mehr besser. Recht hat er. Zum Wohl!