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Brasilien: Vom Wirtschaftswunder zum Krisenland

22.11.2016 13:55

Brasiliens Achterbahnfahrt: Vom Aufsteiger zum Finanzkollaps – seit dem Beginn der Unruhen 2013 steckt das Land in einer Krise mit ungewissem Ausgang.

 

Auf das größte und bevölkerungsreichste Land Südamerikas setzten Investoren seit 2010 lange Zeit kühne Hoffnungen. Brasilien überstand die globale Finanzkrise relativ unbeschadet und wirkte attraktiv für ausländische Firmen. Eine Einwohnerzahl von rund 200 Millionen, vergleichsweise gesunde Staatsschulden und wirtschaftlicher Aufschwung machten das Land aus Sicht von Experten in Zukunft zu einem der wichtigsten Akteure der Weltwirtschaft. Seit 2013 steckt Brasilien jedoch in einer schweren Krise: Demonstrationen und Proteste haben die Korruption auf politischer Ebene angeprangert. Der Korruptionsskandal um das brasilianische Vorzeigeunternehmen Petrobas verunsichert ausländische Investoren. Die weitere Entwicklung hängt vor allem davon ab, ob die Regierung zu tiefen Einschnitten – und einem Neuanfang – bereit ist.

 

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By Artyominc (Template:Artyom Sharbatyan) CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

 

Brasiliens Aufstieg zum Star der Emerging Markets

 

2010 verzeichnet Brasilien ein reales BIP-Wachstum von 7 % gegenüber dem Vorjahr und steht bei Fachleuten ganz hoch im Kurs. Das Land gilt als Gewinner der Finanzkrise. Rekorde an der Börse in São Paulo und keine Schulden im Ausland, steigender Konsum und enorme Investitionen – die Staatsverschuldung beträgt 2013 nur etwa 60 %. Der Aufstieg zur globalen Wirtschaftsmacht scheint für viele nur eine Frage der Zeit. Für die großen Hoffnungen der Analysten gab es verschiedene Gründe: Von 2003 bis 2013 erlebte Brasilien ein wahres Wirtschaftswunder. Der Mittelstand des Landes hat sich mit einem Anstieg von 67 auf 112 Millionen beinahe verdoppelt. Attraktiv machen das Land zu dieser Zeit vor allem der große Binnenmarkt, der gute Mix aus verarbeitender Industrie, Dienstleistern und Rohstoffkonzernen, die eigenen Rohstoffvorkommen und das landwirtschaftliche Potential.

 

Der Wendepunkt: Die Proteste von 2013

 

Im Juni 2013 kommt es in São Paulo zu ersten Protesten, die sich zunächst gegen die Erhöhung der Fahrkartenpreise im öffentlichen Nahverkehr richten. Bei weiteren Demonstrationen prangern Aktivisten die massiven Ausgaben für die Fußballweltmeisterschaft 2014 und die Olympischen Spiele 2016 an. Sie fordern stattdessen Investitionen in Bildung und Gesundheit sowie den Kampf gegen Korruption.

 

Die Krise: Strukturelle Schwierigkeiten

 

Der Einbruch des Wirtschaftswachstums nach 2013 ist aus Sicht von Ökonomen nicht überraschend: Verantwortlich ist unter anderem der im Vergleich zu anderen Ländern geringe Anstieg der Produktivität. Der Wohlstand ist auf einem schwachen Fundament gewachsen, das einstürzen und eine Kettenreaktion auslösen konnte. Hinzu kommen die drastisch gesunkenen Preise für brasilianische Rohstoffe wie Eisenerz oder Soja. Auf Druck der Regierung Rousseff war das Zinsniveau der Zentralbank zudem jahrelang sehr niedrig – so wollte man den Konsum ankurbeln, heizte jedoch gleichzeitig die Inflation an. Im Juli 2015 erreichte diese 9,56 % im Vergleich zum Vorjahresmonat – der höchste Wert seit 12 Jahren. Um dem entgegenzusteuern wurde der Leitzins nach oben gesetzt, Anfang 2016 lag dieser bei 14,25 %. Kredite für Unternehmen werden dadurch immer teurer, auf große Investitionen daher häufig verzichtet. So wird die Konjunktur zusätzlich geschwächt. Diese Umstände und der zusätzliche Sparkurs der Regierung, um die sportlichen Großereignisse zu finanzieren, haben den neuen Mittelstand in den letzten Jahren hart getroffen. Das durchschnittliche Einkommen sank innerhalb von drei Jahren um 16 %, während das Bruttoinlandsprodukt 2015 und 2016 zurückging und die Arbeitslosigkeit zunahm. Die Staatsschulden klettern 2016 auf über 70 % des BIPs und sorgen für eine Herabstufung der Kreditwürdigkeit durch die Ratingagenturen. Höhere Zinsen, geringere Löhne und Rückgang der Investitionen – um die schwerste Krise des Landes zu überstehen, braucht es ein entschiedenes Handeln der Regierung.

 

Machtkämpfe in der Politik

 

Für Schlagzeilen im Ausland sorgt seit 2014 die angespannte Lage in der Politik. Präsidentin Dilma Rousseff wird mit Korruption in Verbindung gebracht und verliert schließlich im August 2016 die Abstimmung zur Amtsenthebung. Für viele Beobachter spielt die Politik daher eine Schlüsselrolle bei der Verschärfung der Krise. Machtkämpfe haben die Regierung davon abgehalten, rechtzeitig auf die Wirtschaftskrise des Landes zu reagieren und gegenzusteuern. Dies gilt auch für die negativen Folgen des Machterhalts, für den Rousseff lange gekämpft hat – trotz niedriger Zustimmung in der Bevölkerung. Aufgrund der politischen Unsicherheit haben viele Konzerne Investitionen vermieden. Mit dem Amtsantritt von Präsident Michel Temer könnte die Zurückhaltung ausländischer Firmen enden und die Wirtschaftslage sich allmählich entspannen. Dennoch steht der neue Präsident vor großen Herausforderungen, um Brasilien aus der Krise zu führen. Neben der Bewältigung der steigenden Staatsschulden und der Inflation wird es zentral, die Ursachen zu beheben. Ohne Investitionen in Bildung und den Umbau der überlasteten Sozialsysteme bleiben gravierende, strukturelle Risiken bestehen.

 

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Die ehemalige Präsidentin Dilma Rousseff. By Antonio Cruz (Agência Brasil) CC BY 3.0 br, via Wikimedia Commons

 

Wie reagieren die Finanzmärkte?

 

Wie sich Brasilien mittel- und langfristig entwickelt, bewerten Investoren unterschiedlich. Nach der Amtsenthebung und optimistischen Prognosen für das Wirtschaftswachstum steigt das Vertrauen der Anleger. Die Finanzmärkte hoffen darauf, dass sich die größte Wirtschaft des Kontinents schnell erholt und sich dies positiv auf die Weltwirtschaft auswirkt. Dafür ist es jedoch notwendig, dass die neue Regierung Mut beweist und tiefgreifende Veränderungen wagt. Andere sind hier etwas skeptischer, denn nachhaltige Umstrukturierungen blieben unter der Übergangsregierung Temers bis jetzt aus. Unter Umständen könnte gerade der Aufschwung auch eine Gefahr darstellen. Sollte sich eine wirtschaftliche Erholung zu früh einstellen, könnte die Reformbereitschaft sinken und bald erneut eine Rezession drohen.

 

Fazit:

 

  • Brasilien: größte Wirtschaft Südamerikas, Gewinner der Finanzkrise.
  • Wirtschaftswunder: Mittelstand steigt von 67 auf 112 Millionen von 2003 bis 2013.
  • Proteste von 2013: Demonstrationen gegen Korruption, Fußball-WM und die Olympischen Spiele.
  • Strukturelle Schwäche: vergleichsweise geringe Produktivität.
  • Politischer Machtkampf um Präsidentin Rousseff von 2014 bis 2016.
  • Hohe Inflation und Arbeitslosigkeit, BIP schrumpft.
  • Nach Amtsenthebung von Rousseff: Anleger schöpfen neues Vertrauen.

 

Wie beurteilen Sie die Entstehung der Krise in Brasilien und die Chancen für den Aufschwung? Diskutieren Sie mit und geben Sie uns Ihre Einschätzungen in den Kommentaren!